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Der Urwaldsteig am Edersee

  • Autorenbild: Lisann Hoefer
    Lisann Hoefer
  • 20. Mai 2020
  • 16 Min. Lesezeit

"Das Leben ist eine Reise, nimm nicht zu viel Gepäck mit."


Dieses Zitat von Billy Idol ist eines meiner Lieblingszitate und hat sogar seinen eigenen kleinen Platz auf dieser Website. Ironischer Weise bin ich dieser Weisheit bei meinem letzten Ausflug nicht gefolgt. Aber fangen wir mal von vorne an. Ich werde euch diesmal mit ein bisschen mehr Geschriebenem "quälen" und euch mit in meine Gedankenwelt hinein nehmen. (Wer gleich zur Sache kommen möchte, startet am 12. Mai!)



4. Mai 2020

Ich scrolle durch das Internet und suche nach Orten in Deutschland, die man gut bereisen kann. Ich schätze das war Prokrastination, denn ich sollte eigentlich an meiner Hochschulbewerbung arbeiten. Meine Gedanken finden sich schnell und mir ist klar, sobald ich die Bewerbung abgeschickt habe, möchte ich wieder Reisen. Ich saß lange genug Zuhause und habe mich von Corona einsperren lassen. Aber wieso denn? Denn genau jetzt ist die Zeit spazieren zu gehen, Fahrradtouren zu unternehmen und seine Inline Skates wieder vom Dachboden runter zu holen. Ich habe mir gedacht ich will in die Natur, da wo unser aller Zuhause ist und ohne die wir nicht leben können. Und da mir ein langer Spaziergang in den Meinerser Wäldern nicht reicht und ich meine Isomatte bislang nur einmal benutzt habe (und das war im Wohnzimmer kurz nachdem ich sie bekommen habe für ca. fünf Minuten), dachte ich so eine kleine mehrtägige Wandertour ist doch nicht schlecht.


5. Mai 2020

Meine Gedanken kreisen viel über meinen bislang noch geheimen Plan einer Wandertour. Ich google alles mögliche über Wildcampen in den Bundesländern Deutschlands, über verschiedenste Wanderwege vom Heidschnuckenweg (Lüneburger Heide) bis zum Jakobsweg (in Deutschland versteht sich) und über die beste Ausrüstung für so einen Ausflug. Ich komme wenig voran und frage schließlich meinen "Pfadfinder-Freund" Fabian nach Rat. Innerhalb weniger Minuten klären sich die Fragen, die sich nach einer Stunde googeln nur noch wirrer in meinem Kopf ausgebreitet haben. Für alle: Biwaken ist eine Grauzone und damit nicht zwangsläufig verboten wie das Wildcampen mit dem Zelt oder Campervans in Deutschland. Sich für die Nacht in Naturschutzgebieten oder Nationalparks nieder zu lassen sollte man allerdings vermeiden.


6. Mai 2020

Fabian empfehlt mir die Region am Edersee und schickt mir einen Link des Weges, den er mit anderen gemeinsam gelaufen ist (http://www.urwaldsteig-edersee.de/). Außerdem treffe ich mich mit Matina, eine Art Mentorin für mich, um mit ihr über alles Mögliche zu reden. Als ich meine Idee des Trips erwähne und auch den Urwaldsteig am Edersee, erwidert sie aufmerksam, dass ihr Mann damals den Ausflug an dem auch Fabian beteiligt war, organisierte. Ich darf mir den Wanderführer ausleihen und fange langsam damit an, den 68km langen Weg und alles was dazu gehört zu planen.



9. Mai 2020

Nachdem mein Plan nun ausgereift ist und ich ihn auch meinen Eltern so vorstellen kann, dass sie unbesorgt sein können (was man als Eltern trotzdem wohl einfach nicht abschalten kann), reagieren sie mit gemischten Gefühlen. Die Frage "Alleine?" war wohl der größte Angstfaktor. Aber genau das reizt mich. Sein eigenes Tempo gehen. Über alles mal in Ruhe nachdenken. Die Natur vollkommen genießen und einfach mal abschalten. Ich liebe es, dass mir meine Eltern trotz ihrer Sorgen, nicht im Weg stehen wollen. Aber ich hatte diese Idee bis zu diesem Zeitpunkt schon so fest in mein Gehirn eingebrannt, dass ich enttäuscht von mir wäre, wenn ich es nicht durchziehen würde. Also habe ich alles zusammen gesucht und zurecht gelegt, was ich brauchte. Habe einen Biwak von meinem Bruder, den Trinkbeutel meines Vaters und den Spirituskocher von Matina geliehen. Außerdem war ich einkaufen, um mit leichten Lebensmitteln zu wandern.


11. Mai 2020

Ein Tag vor Abfahrt! Ich buche mein Zugticket nach Vöhl-Herzhausen am Edersee. Drei Mal umsteigen, da freut man sich drauf... Starrend auf meinen voll bepackten Rucksack denke ich, es könnte zu viel sein. Einen Moment später lösche ich den Gedanken aus meinem Gedächtnis.


12. Mai 2020

Es geht los: Halb elf und mein Papa bringt mich stolz aber mit überspielter Besorgnis zum Bahnhof.

Erster Zug: kein Problem.

Zweiter Zug: kein Problem.

Dritter Zug: Signalstörung. Was soll man schon von der Deutschen Bahn erwarten?

Wobei ich zugeben muss, dass ich meine letzte Schwierigkeit mit der DB im Dezember hatte. Also ganz gute Quote wäre da nicht diese Coronakrise, weswegen man seltenst ein Bahnticket bucht. Naja, zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Korbach hält der Zug schließlich in einem mir unbekannten Ort und wir steigen zu sechst - davon drei Mitarbeiter der Deutschen Bahn - in ein Taxi. Nachdem ich als dritte Person auf die hintere Sitzbank klettere (später bemerke ich noch, dass diese eigentlich bloß für zwei Personen bestimmt ist), sage ich zu einem Schaffner: "Jetzt halten wir aber keinen Abstand von 1,5 m mehr ein". Darauf entgegnet er mit der Aussage, wir würden ja Masken tragen.

Während der Taxifahrt kann ich meinen Aufenthalt in der Natur kaum noch erwarten.

Vierter und letzter Zug: eine Stunde später.

Um 15:15 Uhr komme ich dann in Herzhausen an. Der erste Blick vom Zug direkt auf den See ist schonmal unheimlich schön, auch wenn nicht so blau wie erwartet. Denn - ich zitiere den Wanderführer - "immer schimmert das tiefe Blau des Edersees".

Und da stehe ich nun und habe rund 70 Kilometer vor mir um wieder genau hier anzukommen. Ich gehe los und versichere mich mehrmals an den blauen Markierungen mit den weißen Buchstaben "UE" (für Urwaldsteig Edersee), dass ich auf dem richtigen Weg bin. Nach nur einer halben Stunde sehe ich ganz nah ein Reh, welches schreckhaft vor mir flüchtet. Ebenso erstaunt bin ich von der Vegetation. An einer Stelle sind die Bäume auf den Wegesseiten ganz unterschiedlich. Links Laubwald, rechts Tannenwald (für spezifischere Einordnung reicht mein Wissen leider nicht aus). Zudem erwische ich mich, wie ich Selbstgespräche führe und bin überrascht, dass das schon gleich in den ersten Stunden passiert. Ich moderiere mich selber an, indem ich in meinen Trinkschlauch rede, als wäre es ein Mikrofon. Natürlich rede ich nicht nur mit mir selbst, ich genieße auch die Stille oder führe Smalltalk mit neugierigen Passanten, die meist mit Erstaunen meinen Rucksack anstarren.

Ich bin echt nicht mehr viel gewandert am ersten Tag. Komisch. Dabei dachte ich nach der langen Zugfahrt wäre ich besonders energiegeladen um noch einige Kilometer zu laufen.

Ich finde ein nettes Plätzchen etwas abseits der Hauptroute in der Nähe der "Hohen Fahrt". Ich schätze das "nette Plätzchen" ist eigentlich ein Zuweg (eher ein kaum sichtbarer Pfad) irgendwohin.

Ich habe Hunger und beschließe, mir erst etwas zu kochen bevor ich dem mysteriösen Weg folge, von dem ich später noch Stimmen höre. Ich koche mir Fertigreis aus der Tüte mexikanischer Art. Dazu packe ich noch die Tortilla-Chips aus meiner Lunchbox und voilà: ein grandioses Abendessen! Danach richte ich mein "Bett" her und lese in einem Buch, was meine Schwägerin Janna mir geliehen hat, mit dem Titel "Nächster Halt: Wildnis". Zwar geht es bei der Autorin um einen Aufenthalt im Busch Südafrikas, aber ich genieße darin zu lesen und auch die Wildnis hier in Deutschland wertzuschätzen

Ich höre Stimmen, die mir sehr nahe sind und überlege, dass wenn ich den Stimmen nicht nachgehen würde, ich wahrscheinlich nicht einschlafen könne. Ich folge dem Pfad, auf dem ich mich quasi ausgebreitet habe, und gelange schließlich an das Ufer des Edersees. Die Sonne steht tief und das Baummeer spiegelt sich am anderen Ufer im Wasser. Die Stimmen gehören einer Familie an, wie sich herausstellt. Ein Jugendlicher angelt mit seiner Freundin. Seine Großeltern ebenso, bloß zwanzig Meter entfernt. Bis jetzt hat noch kein Fisch angebissen. Ich drücke die Daumen und kehre zu meinen Sachen zurück, da ich Angst habe, dass irgendwelche Tiere an meiner Isomatte knabbern oder sonst irgendwas. Ich bestaune den Sonnenuntergang und kuschel mich schließlich in meinen Schlafsack. Mir ist warm nur meine Füße hängen wie Eisblöcke an meinen Beinen.


13. Mai 2020

Unzählige Vogelgesänge wecken mich auf. Dabei ist es erst sechs Uhr früh und es ist zugegeben noch echt kalt da draußen. Ich wälze mich noch einige Male von Seite zu Seite bis um halb acht meine Blase kurz vor dem Platzen ist. Sie zwingt mich aufzustehen. Ich packe meine Sachen zusammen, die zum Teil echt feucht von dem Kondenswasser sind und entschließe mich dazu, erst meine Füße warm zu laufen und dann zu frühstücken. Kennt ihr das Gefühl, wenn die Füße langsam wieder durchblutet werden und alles nur so komisch kribbelt? Der linke Fuß wird erstaunlich schnell wieder warm. Der rechte ist dann ca. nach einer Stunde wieder voll mit Gefühl.

Ich beschließe mir endlich meinen heiß ersehnten Porridge zu machen, direkt in Asel auf einer Bank. Eine Banane und Schoko-Nuss-Granola, welches ich Zuhause schon vorbereitet hatte, machen mein Frühstück komplett. Ich koche mir eine Tasse Instant-Kaffee und fülle Tee in meine Thermoskanne für den Tag ab. Anschließend bepacke ich meine Lunschbox und fülle Wasser von einer Dame aus Asel auf. Irgendwie habe ich mir ganz schön viel Zeit gelassen, denn ich gehe erst wieder so um zehn weiter auf dem Urwaldsteig.

Es geht bergauf und bergab, flach gibt es eher selten und ich muss zugeben, ich habe doch ganz schön blöd gepackt. Drei Outfits sind wahrscheinlich doch nicht nötig. Ich mache immer wieder eine Pause und nach einer Weile gehen, machen meine Beine die Schritte auch fast von alleine.

Während ich einen Hang im Wald herauf gehe, löst sich langsam mein Schlafsack. Ich stoße gegen einen Holzpfeiler und schaue dem Schlafsack zu, wie er den steilen Hang hinunter kullert. Ich stehe wie versteinert da und warte darauf, dass mein Schlafsack an irgendeinem Gebüsch zum stoppen kommt. In meinem Kopf fliegen die Gedanken nur so umher. Wenn ich keinen Schlafsack mehr habe, kann ich auch gleich nach Hause fahren. Nach einer gefüllten Ewigkeit - in der sich das Szenario "Ohne Schlafsack" in meinem Kopf ausbreitet - bewegt sich mein Schlafsack nicht mehr. Ich spüre eine immense Erleichterung und die nächste gleich hinter her, als ich meinen Rucksack schnell aber sicher von meinem Rücken herunter warf. Jetzt muss ich vorsichtig den mit Laub besäten Hang hinunter klettern, rede ich mir selbst zu. Schritt für Schritt gehe ich meiner Rettungsaktion nach. Der neuseeländische Rabauke Pactrick (mein Schlafsack) wollte sich also einfach selbstständig machen. So nicht. Ich greife nach ihm und halte ihn kräftig fest, bis ich ihn, wieder auf dem Pfad angekommen, fest an mich drücke. Ich sitze dabei auf dem Weg und atme erstmal tief durch. Das ist wirklich ein Abenteuer, denke ich mir. Diesmal schnalle ich Pactrick besonders fest und sichere ihn doppelt und dreifach bevor ich meinem Weg nachgehe.

Der Schlenker über den Lindenberg lohnt sich alle mal. Ich gönne mir eine lange Pause am Ufer des Edersees, in dem sich alles wie in einem Spiegel reflektiert. Außerdem bemerke ich, dass ich den Tag über kaum mit mir selbst redete. Wahrscheinlich sind Selbstgespräche Phänomene des ersten Tages.

Ich bin stolz als ich Scheid rechts neben mir sehe, aber ich wollte noch weiter. Auf einer meiner Wanderkarten entdecke ich hinter Nieder-Werbe eine kleine Schutzhütte, die für heute mein Ziel sein soll. Ich mache erstaunlich viele Pausen und entschließe mich dann, vor Nieder-Werbe ein wenig abzukürzen. Das erste Mal verlasse ich die Hauptroute des Urwaldsteigs. Statt durch den Wald über Stock und Stein gehe ich an der Straße entlang. Ich bin zufrieden mit mir selbst und sehe es nicht als eine Art "Fehlschlag".

Ich mache schon wieder Rast. Diesmal in Nieder-Werbe wo auch ein Restaurant Gerichte zum Mitnehmen verkauft. Ich kaufe mir drei Frühlingsrollen, quasi als Vorspeise, denn ich möchte mir nachher noch was kochen. Während ich meine kleine Vorspeise so genieße, komme ich mit einem älteren aber noch fitten Herrn ins Gespräch. Er heißt Clemens, ist - ich schätze - mindestens 70 Jahre und schiebt in Radlerhose sein Mountainbike neben sich her. Wir redeten über Gott und die Welt und schließlich gab er mir noch einen Kaffee aus. Ich habe das Gespräch sehr genossen, da ich heute kaum Wanderer traf. Die neue Kraft, die ich dort getankt habe, benutze ich für die letzten zwei Kilometer wieder in einen Wald hinein.

Da wo das Schutzhütten-Symbol auf der Karte ist, finde ich auch das kleine Häuschen, wo ich nächtigen will. Zunächst skeptisch checke ich, ob meine Isomatte hinein passt. Zum Glück. Gerade so. Und wie gemütlich alles ist. Meine Isomatte liegt auf der längsten Bank eingekeilt und den Schlafsack lege ich darauf bereit. Ich telefoniere lange mit meinen Eltern, während ich Tee trinke, mich umziehe, Suppe koche und danach verspeise, wieder Tee trinke und schließlich Zähne putze. Ich schätze ich habe nach dem gesprächslosen Tag ein bisschen Gesellschaft gebraucht. Erschreckend merke ich, wie mein Akku natürlich darunter litt...


14. Mai 2020

Friedlich wache ich in meiner kleinen Schutzhütte auf. Glücklich, dass ich nicht von der Bank, auf der die Isomatte liegt, herunter gerollt bin. Heute morgen bin ich schneller, sage ich mir selbst und brauche ca. 20 Minuten von aus dem "Bett" zurück auf den Wanderweg. Zwar muss ich mir heute die Füße nicht warm laufen, aber ich laufe trotzdem schon bevor ich meinen Porridge koche ein wenig auf dem Weg weiter Richtung Waldeck. Auf dem Speiseplan steht das Gleiche wie am Vortag, denn die Banane hat schon so einige Dellen. Die nächsten sechs Kilometer in den bekanntesten Ort am Edersee gestalten sich mit vielen Pausen. Zum einen zur Erholung und zum anderen um insgesamt zwei Rehe und zwei Rehkitz zu beobachten. Eines der Rehe kann ich nach ihrem schreckhaften Flüchten vor mir noch einige Zeit beobachten. Ich bin beeindruckt von der Geschicklichkeit und wie grazil sie den steilen Berg runter läuft.

Ich kontaktiere Rike, eine Freundin von Linus, meinem Bruder, die in Waldeck wohnt. Wir verabreden uns um zwei Uhr nach ihrer Vorlesung und ich beschließe mir solange auf der Terrasse des Schlosses die Zeit zu vertreiben. Ich genieße die Aussicht auf den erstaunlich ruhigen Edersee, spüre wie die Sonnenstrahlen, die zeitweise zwischen den Wolken hervor blitzen meine Haut wärmen. Ich esse die letzte Banane zu meinem Schwarzbrot (eine herrliche Kombination übrigens), trinke den vom Morgen gebrühten Tee und schreibe in mein Büchlein all meine Erlebnisse.

Ich mache mich auf den weg zu Rikes Haus, wo ich trotz der Corona Situation herzlich willkommen geheißen werde. Ich bin ein wenig zu früh, doch ich kann mir eine warme Dusche gönnen und fühle mich endlich wieder richtig sauber. Ich denke mir, was spricht eigentlich gegen einen kurzen Wandertag... Garnichts! Also tratsche ich viel mit Rike und werde mit Pfannkuchen, Cappuccino und Erdbeeren verwöhnt. Ich lade mein Handy auf und fülle mein Wasser auf. Danke für die enorme Gastfreundschaft bei euch!

Mein Plan ist wieder in einem Schutzhaus zu nächtigen, nur diesmal nicht mitten im Wald sondern an einem Aussichtspunkt. Ich erreiche die Hütte an der Kanzel und verstehe, wieso "Kanzel". Vier Holzstühle sind neben der Hütte so gebaut, dass man den perfekten Blick auf den See und das Schloss hat. Ich sitze einfach nur da und genieße den Ausblick, sehe, wie die Sonne langsam hinter den Bergen verschwindet und lese ein wenig in meinem Buch. Wenn ich so auf den Tag zurück blicke, waren die Gespräche - ob mit Rike (natürlich besonders) oder mit Fremden - doch auch sehr schön. Ein Paar auf der Schlossterrase war sehr interessiert und ein Radfahrer, der eben auf der Kanzel war, half mir meine Gedanken für den nächsten Tag zu sortieren. Ich möchte nämlich die Staumauer hinüber gehen, was eigentlich nicht Teil der Hauptroute des Urwaldsteigs ist. Ich denke viel über den morgigen Tag nach und möchte Kraft tanken. Ich kuschel mich schon früh in meinen Schlafsack, weiterhin mit der Hoffnung, dass es jeden Tag wärmer wird.


15. Mai 2020

Zwei Männerstimmen, die zügig näher kommen, wecken mich auf. Ich rappel mich schnell auf, aber mehr als ein schläfriges "Guten Morgen" bekomme ich nicht raus. Stattdessen belausche ich das kurze Gespräch, welches die Wanderer an der Kanzel führen, während sie die Aussicht genießen. Sie sprechen über ihren glorreichen Schnitt und, dass sie die 70 km des Urwaldsteigs so schaffen werden, dass sie gegen 18 Uhr wieder am Auto sind. Ich bin demotiviert, zwinge mich aber alles schnell zusammen zu packen und in meinem ganz eigenen Tempo weiter zu wandern.

Ich genieße eine herrliche Aussicht vom Uhrenkopf auf die noch halb im Schatten der Berge liegende Staumauer. Was für ein mächtiges Bauwerk, was solche Wassermassen aufhalten kann. Ich verlasse nun das zweite Mal die Hauptroute, denn ich möchte über die Staumauer laufen. Rechts der See, das Wasser steht hoch, und links geht es einige Meter in die Tiefe. In Hemfurth koche ich dann meinen Porridge mit Äpfeln dem Rest des Schoko-Granolas und vielen Nüssen. Nachdem ich wieder alles sauber gemacht und verpackt habe, schlendere ich durch den Ort Hemfurth und komme schließlich wieder auf den Urwaldsteig. Ich gehe zur Standseilbahn, die ich auch gerne nehmen würde. Aber wegen der Corona Situation ist sie leider nicht im Betrieb. Nach einer Pause bei der Standseilbahn Station, ziehe ich wieder los. Und nun kommt erstmal nur bergauf, kein bergab. Mein Rücken tut weh und der linke Knöchel hat mit der Steigung so seine Probleme. Ich kämpfe mich Höhenmeter für Höhenmeter nach oben. Eigentlich ist diese Steigung kein Problem für mich, ich wandere schließlich oft in den Alpen. Aber die Last auf dem Rücken macht mir wirklich zu schaffen. Es scheint als neige sich meine Kraft schon am Mittag gegen Null. Und dann bin ich endlich an den Hochspeicherbecken, aber anstatt einem Ausblick, der mir versprochen wurde, führt die Hauptroute nur unterhalb der Becken im Wald entlang. Ich bin enttäuscht. Ich merke es sind vielleicht nicht nur tatsächliche Lasten auf meinem Rücken, sondern auch seelische, die ich schon längere Zeit mit mir herum trage. Ich habe die letzten Tage schon viel nachgedacht und Gedanken verarbeitet.

Ich schreie laut, das wollte ich schon immer mal machen. Was die Tiere wohl denken, oder sogar andere Wanderer in der Nähe. Mir egal. Der Schrei tat tatsächlich richtig gut. Ich habe mir die Seele ausgeschrien, so wie man es auch oft in den Filmen sieht. Ich kann das nur empfehlen. Meine Motivation kommt langsam wieder, aber der Start in den Tag macht mir doch immer noch zu schaffen. Aber wieso vergleiche ich mich mit zwei echt sportlichen Männern mittleren Alters, die solche Wanderungen wahrscheinlich schon hunderte Male gemacht haben? Ich bin ich und ich laufe mein ganz eigenes Tempo, genieße die Natur um mich herum und kann einfach mal alleine mit mir und meinem wirren Kopf sein, um mal durchzusortieren.

Zum Glück geht es nach dem nur bergauf, nun erstmal bergab, was mir persönlich lieber ist. Als die Abzweigung für Bringhausen kommt, überlege ich mir gut, was ich tun soll. Soll ich insgesamt 1,5 km Umweg in Kauf nehmen um meine Wasservorräte aufzufüllen oder soll ich auf eine Stelle auf der Wanderkarte hoffen, wo ich Zugang zum See habe und mir das Seewasser abkochen kann? Ich entscheide mich für das Letztere und gehe an Bringhausen mit großem Abstand vorbei. Schon bald danach sehe ich auf einer Wiese Füchse. Ich schmeiße sofort meinen Rucksack vom Rücken und kann den von mir am nächsten lauernden Fuchs ablichten. Schon bald bemerkt er, dass Geraschel im Gras und sprintet davon. Diese unglaubliche Begegnung gibt mir neue Motivation.

Nach nur knapp 2 km hinter der Abzweigung nach Bringhausen ist der Edersee wieder vor mir. Links geht es ganz normal auf dem Urwaldsteig in dem Nationalpark weiter (wo man allerdings nicht nächtigen sollte) und rechts geht es mehr oder weniger am Wasser wieder nach Bringhausen. Ich klettere an der rechten Seite durch die Bäume und das Gestrüpp zum Wasser hinunter und finde die perfekte Stelle für die Nacht. Irgendjemand hat hier bereits mit Steinen etwas gebaut, was ich mir zu meiner nächsten "Hütte" mache. Ich schöpfe fleißig Wasser aus dem See und koche damit Tee zum Trinken. Außerdem koche ich mir Spaghetti (Tüten-)Soja-Bolognese, die erstaunlich lecker ist. Vielleicht sind meine Geschmackssinne aber auch einfach nicht mehr so anspruchsvoll.

Nebenbei baue ich in Ruhe mein Bett auf und sitze immer wieder nur da, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen.

Ich telefoniere mit meiner Mama und lese; viel bleibt einem beim Wandern nicht übrig. Aber ich genieße die Natur doch sehr. Gerade heute Abend habe ich diesen perfekten und besten Schlafplatz gebraucht, um Kraft für die letzten Kilometer zu tanken. Ab und zu schauen Boote vorbei, die ich winkend grüße. Ansonsten ist an den Ufern, die ich sehen kann, keine einzige Menschenseele. Und bald kommen die Boote auch nicht mehr. Ich schlafe in einer Pflanzenwelt ein und freue mich auf den nächsten Tag, für den ich meinen Krafttank wieder auffülle.


16. Mai 2020

Zwei streitende Enten wecken mich um fünf Uhr am Morgen. Ich versuche das Gequake zu ignorieren und wälze mich immer wieder von einer Seite zu der anderen. Ich ertrage das eine ganze Weile. Als ich aber plötzlich meinen Oberkörper aufrichte, fliegen sie weg. "Wäre ich da bloß früher drauf gekommen", geht mir durch den Kopf und ich drehe mich wieder um. Nachdem die Enten weg sind, schlafe ich noch genüsslich weiter bis ich um acht schreckhaft auf die Uhr gucke. ich krieche langsam aus meinem wohlig warmen Schlafsack, den ich gar nicht verlassen möchte. Denn auf meiner Uferseite ist nur Schatten, wohin gegen am anderen Ufer schon die Strahlen der Sonne die Natur berührt.

Der Plan für heute steht: Ich bin motiviert bis nach Herzhausen zu laufen, um die nächste Nacht wieder in mein Bett zu fallen. Ich bereite alles vor, genug Trinken und Essen für den Tag, auch wenn ich erst spät einen Zug kriege. Zudem mache ich mir mein Frühstück heute auch direkt an meinem Schlafplatz. Nebenbei packe ich mein Bett zusammen. Ich starte tatsächlich erst um viertel nach neun und sage Tschüss zu dem unglaublich schönem Plätzchen an dem ich nächtigen durfte.

Am Wegesrand entdecke ich Pfingstnelken. Die seltenen Blumen soll es fast nur in der Region am Edersee geben, wie ich in meinem Wanderführer gelesen habe. Ich bin stolz auf mich, die Pfingstnelke trotz geringer Blumenkenntnisse erkannt zu haben. Ich verlasse die Hauptroute ein drittes (und letztes) Mal und gehe am Wasser statt im Wald. Zum einen habe ich gestern genug Wald gesehen und möchte den See mal wieder länger sehen. Zum anderen spare ich Höhenmeter, was meinem Rücken zu Gute kommt. Es ist schön die Anglerschiffchen und andere Boote zu beobachten. Schließlich entdecke ich eine Stelle an dem gegenüberliegendem Ufer, wo ich vor drei Tagen Rast gemacht habe.

Zurück auf der Hauptroute geht es wieder in die Tiefen des Nationalparks, wo man vor Bäumen gar keinen Wald mehr sieht. Das Todholz bleibt hier einfach liegen und bietet Lebensräume für andere Lebewesen (z. B. Pilze). Im Nationalpark begegne ich deutlich mehr Leuten als an den anderen Tagen. Irgendwann merkt mein Blitzgehirn auch warum: es ist Samstag, Wochenende!

Auf einem riesigen toten Baum mache ich Rast und esse mein leckeres Schwarzbrot. Danach wandere ich weiter und nur 50 Meter nach meinem "Rastplatz" machen vier Tageswanderer auch gerade ein Picknick. Ich schiele drauf und trotzdessen, dass ich gerade selber schon Mittag gemacht habe, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Die Frau sagt freundlich, dass sie so viel Essen haben und ob ich nicht helfen wolle. Ich gestehe sofort, dass ich zwar selber gerade zwei Stullen verdrückt habe, aber zu solch einem Buffet nicht nein sagen kann. Oliven, Linsen-, Couscous- und Kichererbsensalat, eingelegter Feta und anderer Käse, leckeres Brot und frisches Gemüse. Schon bald saß ich mit den Vieren mitten auf dem Wanderweg, wo wir essen und uns unterhalten. Ab und an kommen Wanderer vorbei und - so kommt es mir jedenfalls vor - schauen neidisch auf dieses geile Picknick. Vielen Dank, dass ich bei diesem Gourmet-Buffet am Wanderweg teilhaben darf.

Anschließend gehen wir in verschiedene Richtungen weiter. Sie sind am Beginn ihrer Tour und ich in den letzten Zügen. Während ich so durch diesen Urwald laufe, beeindrucken mich am meisten die vielen dünnen Bäume, welche wie eine grüne Decke in drei Metern Höhe an manchen Stellen des Waldes wachsen. Dabei die Geräuschkulisse von Vögelgesängen bis zu rhythmischem Klopfen des Spechtes ist schon nicht schlecht. Aber für jemanden, der sich da auskennen würde - nicht ich - ist wohl jeder Pilz auf dem Todholz eine Sensation und jeder Klang des Waldes kann identifiziert werden. Ich muss zugeben, ich habe heute auch oft Kopfhörer im Ohr, da ich von einem Ohrwurm - einem alten Kinderlied - geplagt werde. Die Musik in meinen Ohren löscht die Musik in meinem Kopf und gibt mir Schwung auf den letzten Kilometern. An Smalltalk hindern mich die Stöpsel nicht, ich wurde ja schließlich auch zum Picknick eingeladen.

Irgendwie ist es viel schöner den Passanten zu berichten, dass man bald durch ist, anstatt dass man gerade erst beginnt.

Ich gehe durch Wälder und Wiesen und an Kirchlotheim vorbei. Schließlich gehe ich mit Sicht auf den Bahnhof über eine Brücke, über den Parkplatz und auf den Bahnsteig. Geschafft!


Nun ist diese aufregende Reise so gut wie zu Ende. Ich war ziemlich genau vier Tage am Edersee, von Dienstag 15:15 Uhr bis Samstag 15:44 Uhr, so die Zugzeiten. Vier Tage in der Natur und an der frischen Luft. Viel Zeit über alles nachzudenken, einfach mal inne zu halten und in diese wunderschöne Welt einzutauchen. Oh du schöne Welt!


"Das Leben ist eine Reise, nimm nicht zu viel Gepäck mit." - Billy Idol


Und wieso ich dieses Zitat eigentlich so liebe, ist weil das "Gepäck" hier für das seelische Gepäck steht. Natürlich kann durch materielles Ausmisten auch seelisch aufgeräumt werden (ich bin sogar fest davon überzeugt). Aber obwohl ich immer mindestens 17 Kilo (ich habe es nach meiner Ankunft zu Hause gewogen) geschleppt habe, konnte ich das Gepäck meiner Reise "Leben" verringern.


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